Europa-Bezug in Berliner Verfassung aufgenommen

Franziska Brychcy
EuropaFranziska Brychcy
Quelle: rbb-online.de

"Europa, das sind nicht nur die Institutionen, das sind wir alle. Europäische Werte bekommen wir nicht geschenkt, die müssen wir gemeinsam erkämpfen und immer wieder dafür eintreten", sagt Franziska Brychcy zur Änderung der Berliner Verfassung.

78. Sitzung des Berliner Abgeordnetenhauses, 6. Mai 2021

Zur Aktuellen Stunde „Europa in die Landesverfassung aufnehmen: Ein wichtiges Signal zur Europawoche“ (auf Antrag der Linksfraktion Berlin)

Franziska Brychcy (LINKE):

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe alle!

Heute ist eine besondere Plenarsitzung. Fünf Fraktionen, also die große Mehrheit dieses Hauses, wollen einen Bezug zu Europa in der Berliner Verfassung verankern. Eine Verfassungsänderung beschließen wir nicht so häufig und dann auch noch genau in der Europawoche. Das ist ein wichtiges politisches Signal, woran viele mitgewirkt haben.

Dafür möchte ich Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen, fraktionsübergreifend ganz herzlich danken. Dass das so zügig möglich war, ist schon etwas ganz Besonderes. Danke!

Entscheidend war und ist aber vor allem auch das zivilgesellschaftliche Engagement der Jungen Europäischen Bewegung und der Europa-Union, welche mit kreativen Aktionen das Thema Verfassungsänderung Europa in den Fokus gerückt und noch einmal starkgemacht haben, dass Berlin nicht nur ein deutsches Bundesland ist, sondern auch eine europäische Stadt und Region und dass dieses Verständnis in die Berliner Verfassung gehört.

Dafür ganz herzlichen Dank!

Wenn wir die Verfassungsänderung zu Europa heute so beschließen, werden wir eine der weitgehendsten Formulierungen aller Bundesländer haben, in der auch die Strukturprinzipien – Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Sozialstaat, Föderalismus und Subsidiarität – verankert werden.

Präsident Ralf Wieland:

Frau Kollegin! Ich darf Sie fragen, ob Sie eine Zwischenfrage des fraktionslosen Abgeordneten Wild zu lassen.

Franziska Brychcy (LINKE):

Nein! – Der heutige Tag ist jedoch kein Schlusspunkt, sondern ein konkreter Auftrag an uns alle, die europäischen Werte weiter mit Leben zu füllen und auch dafür einzustehen. Berlin ist zum Beispiel Mitglied im Netzwerk Solidarity Cities, denn Menschenrechte und Solidarität dürfen nicht an den Außengrenzen der EU enden.

Da ist es absolut richtig, dass Berlin weiter für ein Landesaufnahmeprogramm für Geflüchtete streitet. Wir kennen alle die fatale humanitäre Situation auf den griechischen Inseln, in Libyen, auch wenn die Bilder nicht jeden Tag in der Presse stehen. Solange die EU-Institutionen keine gemeinsame Lösung zur Aufnahme Geflüchteter erreichen können, müssen eben die Städte und zivilgesellschaftlichen Seenotrettungsorganisationen mit gutem Beispiel vorangehen und die Menschenleben retten; denn Europa, das sind nicht nur die Institutionen. Das sind wir alle. Europäische Werte bekommen wir auch nicht geschenkt, sondern die müssen wir gemeinsam erkämpfen und immer wieder dafür eintreten, auch wenn es schwierig, anstrengend und manchmal enttäuschend ist.

Die AfD-Fraktion lehnt als einzige Fraktion unseren gemeinsamen Verfassungsänderungsantrag ab und fordert in ihrem Bundeswahlprogramm den EU-Austritts Deutschlands. Da frage ich mich schon, ob Sie mitbekommen haben, wie verheerend der Brexit abgelaufen ist, dass auch die Wissenschaftskooperationen Berlins mit britischen Universitäten zum Beispiel, dass auch das Erasmus-Programm unter die Räder gekommen ist, und da muss ich ganz ehrlich sagen: Sie haben bis heute nicht verstanden, dass Kooperation besser ist als Konfrontation und dass es politische Herausforderungen gibt, die sich nicht auf nationalstaatlicher Ebene lösen lassen, zum Beispiel wirksame Maßnahmen gegen den Klimawandel, die Einführung eines europäischen Mindestlohns oder gute Ausbildungs- und Jobchancen für junge Menschen in Europa.

Gerade bei der Säule sozialer Rechte geht es aktuell richtig voran mit dem europäischen Kurzarbeiter- und Kurzarbeiterinnengeld „SURE“ und der neuen europäischen Arbeitsbehörde.

Da lohnt es sich dranzubleiben, bis wir auch noch den europäischen Mindestlohn erreicht haben werden.

Die Initiativen, die die Verfassungsänderung angeregt haben, haben uns aber auch mitgegeben, dass sie ernst genommen und gehört werden wollen. Es ist unsere Aufgabe, dass wir beim anstehenden Prozess zur Zukunftskonferenz Europas alle Zielgruppen ansprechen: junge Menschen, alte Menschen, Frauen, Männer, Akademikerinnen und Akademiker oder auch Menschen ohne Berufsausbildung, denn Europa betrifft uns alle, und dann müssen auch alle mitreden können. Es darf nicht bei unverbindlichen Debattenrunden bleiben, und als Senat und Abgeordnetenhaus müssen wir dafür sorgen, dass die Ergebnisse der Zukunftskonferenz wirklich in konkrete Initiativen auf europäischer Ebene münden. Ich freue mich schon sehr auf viele tolle Aktivitäten und Veranstaltungen mit den zahlreichen Partnerinnen und Partnern der Berliner Initiative, wo zum Beispiel die Akademie der Künste oder der Landessportbund mitwirken. Das ist wirklich ein breiter Prozess. Daraus kann wirklich etwas werden, und das ist beispielhaft.

Wir brauchen mehr Europa für alle Menschen und weniger Europa der Eliten und der Wenigen, und das möchte ich anhand einer persönlichen Erfahrung kurz ausführen. Ich hatte das Glück, in der Schule an einem deutsch-französischen Bildungsgang teilzunehmen, weil meine Oberschule in Thüringen das ohne Hürden angeboten hat.

Viele Familien in Berlin, gerade mit wenig Einkommen, ziehen oft einen bilingualen Bildungsgang für ihre Kinder gar nicht erst in Betracht oder scheitern an den Zugangsvoraussetzungen. Die soziale Durchlässigkeit ist leider bei unseren bilingualen Angeboten noch gering, und das reproduziert sich auch später bei Auslandsaufenthalten, in Ausbildung und Studium, mit Erasmus+, denn Mobilität muss man sich als Familie auch leisten können. Wir brauchen Europakompetenz überall, zum Beispiel im Handwerk. Daher ist eine größere soziale Durchlässigkeit für Austausch, Mobilität, Sprach- und Wissenserwerb in Europa unabdingbar.

Zweites Beispiel: Unsere Landeszentrale für politische Bildung bietet sehr viele Formate für Europa an und beherbergt auch das Europe Direct Informationszentrum, das gerade wieder verlängert wurde. Wir hatten bisher das Problem, dass sehr wenige Menschen aus den östlichen Bezirken den Weg in die Hardenbergstraße gefunden haben. Jetzt wird ein weiterer Anlaufpunkt eingerichtet und damit mehr sozialräumliche Angebote in der ganzen Stadt, und das ist gut. Wenn der Berg nicht zum Propheten kommt, muss der Prophet zum Berg kommen, und daran müssen wir anknüpfen.

Transparenz, Teilhabe, Möglichkeiten der Mitwirkung sind für unsere Demokratie entscheidend, und das gilt besonders für das komplexe europäische System, denn damit man Chancen ergreifen kann, muss man erst mal wissen, dass es sie gibt.

Ich persönlich bin dankbar, dass ich die Möglichkeit hatte, in Frankreich zu studieren, dort einen Studienabschluss zu machen, und da muss ich auch ganz ehrlich sagen: Meine Eltern zum Beispiel hätten zu DDR-Zeiten diese Möglichkeit nicht gehabt.

Weil wir hier in Berlin sind, und weil wir wissen, was Freiheit bedeutet mit unserer Geschichte, ist es wichtig, dass die Chancen, die die Europäische Union bietet, allen Menschen offensteht.

Wir, Senat, Parlament, zivilgesellschaftliche Akteurinnen und Akteure, die sich leidenschaftlich in ganz unterschiedlicher Art und Weise für Europa engagieren, stehen gemeinsam in der Verantwortung, dass die heutige Verfassungsänderung weiter mit Leben gefüllt wird, dass bestehende Hindernisse weiter abgebaut und Chancen neu eröffnet werden, gerade für die junge Generation. Ich bin mir sicher: Es kann und es wird uns gelingen. – Danke!